Selbständig / selbstständig

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Der Artikel über die Schreibweise des Adjektivs (Eigenschaftsworts) selbständig / selbstständig dient der Information und Aufklärung über den Schreibgebrauch (Usus).

Zur Problematik

Professor Theodor Ickler, Uni Erlangen, schrieb an den ZEIT-Redakteur Dieter E. Zimmer: „An der Bereitschaft, nun plötzlich das kakophone 'selbstständig' zu verwenden, kann man den Grad der Beflissenheit ablesen, mit der sich alle möglichen Leute, von denen man es nicht anders erwartet hatte, den Wünschen der deutschen Kultusminister unterwerfen. (Die Verfasser der amtlichen Neuregelung selbst verwenden es übrigens nicht!)“ [1]

U.a. hat auch die Forschungsgruppe Deutsche Sprache in ihrer Netzseite Schrift & Rede über die Schreibweise „selbstständig“ diskutiert.

Schreibvarianten „selbständig / selbstständig“

Außerhalb der Schulen kann jeder weiterhin die traditionelle Orthographie verwenden und „selbständig“ schreiben, auch die Zeitungen; denn es gibt kein Rechtschreibgesetz. Die meisten Zeitungen haben sich jedoch freiwillig der Schulschreibung von 1996 unterworfen und eine eigene Presseorthographie und darüber hinaus eigene Hausorthographien eingeführt. Dabei haben sie sich oft ohne Not die - manchen „progressiv“ erscheinende - neue Variante „selbstständig“ ausgesucht. Manch eine Zeitung tritt als Korrektor auf und verändert eigenmächtig die herkömmliche Schreibweise „selbständig“ in Artikeln und Leserbriefen in ihre neue Variante „selbstständig“.

Aspekt des Schreibens

Es handelt sich um eine Vermehrung von Buchstaben bzw. Konsonanten, die man vor der Rechtschreibreform weder schrieb noch sprach. Die Einführung der Variante mit Doppel-st bedeutet einen höheren Zeitaufwand und eine Fehlerquelle. Es bedeutet auch, daß ein Erklärungsbedarf entsteht. Es handelt sich folglich um eine überflüssige Arbeitsbeschaffungsmaßnahme und um einen Nachteil, da man mehr Buchstaben schreiben oder drucken muß.

Ästhetischer Aspekt

Wenn der „Bund der Selbständigen“ verfälscht wird in „Bund der Selbstständigen“, dann empfindet manch einer diese Schreibweise mit Doppel-st als unästhetisch.

Aspekt des Lesens

Das Lesen wird erschwert, weil man im Gegensatz zur Aussprache auf eine Konsonantenverdoppelung trifft. Da die Schreibweise der neuen Schulschreibung nicht mit der Aussprache übereinstimmt, liegt eine Leseunfreundlichkeit der neuen Schreibweise vor.

In den Empfehlungen der G+J-Rechtschreib-Kommission zur Umsetzung der neuen Regelungen von 1999 heißt es:

„17. SONDERFALL SELBSTÄNDIG/SELBSTSTÄNDIG
Analog zu „selbstbewusst“, „selbstkritisch“ und „selbstherrlich“ empfiehlt die Kommission, künftig auch „selbstständig“ zu schreiben. Sie lässt die freie Wahl, ob die alte oder die neue Schreibweise bevorzugt wird.
Wir empfehlen, bei der alten Schreibweise zu bleiben, da sich die neue Variante schlecht spricht und auch für das lesende Auge einen Stolperstein darstellt.“

Sprechvarianten / Phonetik

„Kakophone“ Schreibweise bezieht sich auf die Phonetik bzw. die Aussprache und somit auch auf die Betonung. „Kakophone“ Schreibweise bedeutet, daß die Schreibweise der neuen Schulschreibung nicht mit der Aussprache übereinstimmt, sondern diese entstellt bzw. sogar verhunzt. Dies stellt man bei Fernsehansagern fest, die nicht mehr dem Sprachgebrauch folgen, sondern sich krampfhaft an die neuen kakophonen Schreibweisen halten.

Zur Wortgeschichte (Etymologie)

Der Begriff selbstständig oder selbständig entstammt der Ständegesellschaft und hat seine etymologische Wurzel im mittelhochdeutschen selpstende. Theodor Heinsius führt in seinem Wörterbuch[2] dazu folgendes aus: „Selbststand (Selbstand), der für und durch sich bestehende, von keinem andern Wesen abhangende Stand, Zustand. Selbstständig (Selbständig) für oder von sich selbst, aus eigener Kraft bestehend, zu seinem Bestehen keines andern Dinges bedürfend; Gott ist selbständig, er hat den Grund seiner Möglichkeit und Wirklichkeit in sich selbst; ein Mensch ist selbständig, wenn er fest steht in seinen Grundsätzen und sich darin nicht wankend machen läßt; in weiterer Bedeutung, was zu seiner Begreiflichkeit, seinem Verstehen keines andern Dinges bedarf; in der Sprachlehre nennt man die Hauptwörter selbständige Wörter. Das Selbständige in der Rede, die Person oder Sache, wovon in der Rede etwas ausgesagt wird (Subjekt). Davon die Selbständigkeit, die Eigenschaft, der Zustand, da man oder da etwas selbständig ist.“ Im Gegensatz zu Heinsius gebraucht Adelung [3] wenige Jahre zuvor ausschließlich die Schreibung „Selbstständig, Selbstständiger, Selbständigste, für sich selbst bestehend, zu seiner Begreiflichkeit, zu seinem Verstande keines anderen Dinges bedürfend. In diesem Verstande haben einige die Grundzahlen eins, zwey u.s.f. selbstständige Zahlen, die Selbstlaute selbstständige Laute, die Hauptwörter selbstständige Wörter genannt. Ingleichen nach eigenen Grundsätzen handelnd und darin gegründet. In der engsten philosophischen Bedeutung ist selbstständig, was von sich selbst oder aus eigener Kraft bestehet, was den Grund seiner Möglichkeit in sich selbst hat.“

Im Vergleich der beiden Wörterbücher von Adelung und Heinsius geht hervor, daß sich die vereinfachte Schreibung von selbstständig zu selbständig etwa im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts vollzogen haben muß. Dies hat seinen Niederschlag auch in der Literatur der deutschen Klassik gefunden. So findet sich in Dichtung und Wahrheit von Goethe der folgende Satz: „Er wußte mich zu allerlei Artigem und Schicklichen zu bewegen, was gerade am Platz war, und meine geselligen Talente herauszusetzen. Weil ich aber in solchen Dingen keine Selbständigkeit erworben hatte, so fiel ich gleich, da ich wieder allein war, in mein wirriges, störrisches Wesen zurück, welches immer zunahm, je unzufriedener ich über meine Umgebung war, indem ich mir einbildete, daß sie nicht mit mir zufrieden sei.“ Der „Reformversuch“, die nahezu 200 Jahre bewährte Wortschreibung selbständig wieder rückabwickeln zu wollen, hätte einer fundierten Begründung bedurft.

Bei dem reformierten Wort „selbstständig“ handelt es sich um eine falsche Zusammensetzung. Das richtige, von den Reformern als Hauptvariante zugelassene Wort „selbständig“ wurde im 16. Jahrhundert zu dem frühneuhochdeutschen Substantiv „selbstand“ (= Person) gebildet (vgl. Duden, Band 7, Etymologie).
Die neue Falschschreibung, in der „st“ auf „st“ folgt, ist eine Frage der Wortbildungslehre. Mit letzterer stehen die Reformer bekanntlich nicht nur in diesem Falle auf dem Kriegsfuß. [4] [5]

Zur lexikographischen Erfassung

Duden

Im Duden, 22. Auflage, 2000, heißt es auf Seite 128: „selbständig - auch: selbstständig“, ebenso auf Seite 883. Das bedeutet, daß die Hauptvariante weiterhin die bisherige traditionelle Schreibweise der Gebildeten ist und daß die Schreibung mit Doppel-st nur eine geduldete Nebenvariante ist.

Wikipedia

Sogar in der Wikipedia schreibt man „Selbständigkeit (beruflich)“. Siehe dort die Begründung der Schreibweise. Der Bundesverband der Selbständigen z.B. wird ebenfalls keine Schreibweise wählen, die man normalerweise nicht ausspricht. In der Wikipedia schreibt man

  • Selbständigkeit (beruflich) - Wikipedia Darin heißt es:
„Die Schreibweise Selbstständigkeit ist seit 1996 zugelassen und ebenfalls weit verbreitet, stellt jedoch lediglich eine Alternativschreibweise dar und entspricht weder den Gesetzestexten (http://bundesrecht.juris.de/sgb_4/index.html) noch den Empfehlungen des Rechtschreibrates noch den Richtlinien der deutschen Nachrichtenagenturen.“ --Manfred Riebe (Diskussion) 17:59, 2. Dez. 2017 (CET)

Erfassung des Schreibgebrauchs

Ein Google-Test kann zur Erfassung des Usus hilfreich sein:

  • Ergebnisse ungefähr 2.810.000 für „selbständig“.
  • Ergebnisse ungefähr 2.470.000 für „selbstständig“.

Daß der Unterschied nicht sehr groß ist, rührt wohl daher, daß die Wörterbücher seit 1996 und die Medien seit 1999 präskriptiv die Schreibweise „selbstständig“ diktiert haben. Dabei hat auch eine Rolle gespielt, daß die Öffentlichkeit durch die Behauptung irregeführt wurde, es handele sich um ein Rechtschreibgesetz, das somit rechtsverbindlich sei. Von der angeblich angestrebten Einheit der Rechtschreibung hat man sich in diesem Fall durch die Einführung einer Variante entfernt.

Pädagogische Beurteilung

Welchen Nutzen haben diese Änderungen? Durch Varianten kommt nur Verwirrung zustande. Es entstehen auch hier Interferenzen in den Köpfen und damit mehr Schreibfehler.

Dieses bis 1996 relativ kleine Schreibproblem wurde durch die sog. Rechtschreibreform von 1996 vergrößert. Ziel der Reform war es, die Zahl der Rechtschreibfehler zu senken. Deshalb hat man Schreibvarianten für schreibschwache Schüler eingeführt. Damit hat man aber gegen das pädagogische Prinzip der Eindeutigkeit verstoßen und hat mit Einführung der Schreibvarianten eine allgemeine Verunsicherung herbeigeführt.

Die Schreibweise „selbstständig“ ist lediglich eine Alternativschreibweise. Als Pädagoge strebt man zwar Einheitlichkeit und Eindeutigkeit durch Vermeidung unnötiger Varianten an, aber würde „selbstständig“ nicht als Fehler werten.

Die Rechtschreibreform und deren Alternativschreibweisen sollen aber umgekehrt auch nicht dazu dienen, Schüler zu schikanieren, die richtig die Hauptvariante „selbständig“ schreiben. Diese intelligenten Schüler dürfen nicht bestraft werden. Das würde die Situation geradezu regelwidrig verschlimmern.

Es ist außerdem inkonsequent, einerseits überall mehr Buchstaben dazuzuschreiben (Betttruhe, Rohheit, selbstständig) andererseits aber je nach Belieben, wie z. B. bei Thunfisch nun das „h“ wegzulassen und Tunfisch zu schreiben. Wo ist hier die einleuchtende Regelung und Vereinfachung? Wo ist hier die Vereinheitlichung und wo ist hier ein klares Konzept, das den Namen „Reform“ verdient hätte?

Vermeidungsschreibung „eigenständig“

Verunsicherte wollen sich oft keine Blöße geben und flüchten in die Vermeidungsschreibung „eigenständig“. Seit der Rechtschreibreform hat sich der Trend zur Vermeidungsschreibung verstärkt. Auf diese Weise kann man unerwünschten Schreibungen ausweichen. An die Stelle einer Schreibfreiheit ist ein Schreibzwang getreten. Diesem Zwang weicht man durch Wahl alternativer Wörter aus.

Sprachberatung unter dem Aspekt der Sprachkultur

Das Nebeneinander von traditioneller Erwachsenenorthographie und Kinderrechtschreibung in der Rechtschreibreform hat zur allgemeinen Schreibverwirrung und einer Beliebigkeitsschreibung beigetragen.

Letztlich führt das Durcheinander auch in den Zeitungsredaktionen zu einer gewissen Gleichgültigkeit und Wurstigkeit. Hinzu kommt, daß man die Korrektoren entlassen hat, die Schreibfehlern auf der Spur waren.

Weder die Zeitungen noch die Schüler brauchen sich an die reformierten Schreibweisen zu halten. Sie können die traditionelle Orthographie verwenden. „Das wäre ein Beitrag zur Sprachkultur“ (Theodor Ickler).

Auch der ehemalige Rechtschreibreformer Horst Haider Munske empfiehlt den Lehrern: „Alles Rotgedruckte ist falsch! Man vermeide die roten Giftpilze im Duden!“

Der Duden reagierte schon: In der 25. Auflage, 2009, verzichtete er auf die bisherige Rotmarkierung der Neuschreibungen.

Literatur

  • Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. 1. Auflage Leipzig 1774-1786, hier zitiert aus Auflage, Wien, 1808
  • Theodor Heinsius: Volksthümliches Wörterbuch der Deutschen Sprache, 5 Bände, Hannover, 1818; hier: Hannover, 1822, vierter Band
  • Theodor Ickler: Kritischer Kommentar zur ‚Neuregelung der deutschen Rechtschreibung‘, 1997, 2. durchgesehene u. erw. Auflage, 1998, mit einem Anhang zur „Mannheimer Anhörung“, Erlangen und Jena: Verlag Palm & Enke, 1999 (Erlanger Studien, Band 116) - http://www.vrs-ev.de/KritKomm.pdf
  • Horst Haider Munske: Rechtschreibung gegen Schlechtschreibung. Germanistische Sprachwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Lehrstuhl für Germanistische Sprachwissenschaft, 19. August 2004 - im Netz
  • Jan-Martin Wagner, Jena: selbstständig. In: Diskussionsforum, Beiträge zum Thema »Schriftgeschichte I, Wortschreibungen«, verfaßt am 21.09.2005 um 01.04 Uhr - Schrift & Rede
  • dpa: Studie: Bayerische Schulen haben kaum Spielraum. Wenig Selbstständigkeit. In: Nürnberger Zeitung Nr. 64 vom 18. März 2010, S. 22 - NZ

Querverweise

Netzverweise

  • Theodor Ickler: „Putativgehorsam“ - Über „selbstständig“, 14. Juni 2005. In: Schweizer Orthographische Konferenz - SOK-PDF
  • Peter Müller: selbständig/selbstständig. In: Schweizer Orthographische Konferenz vom 1. Dezember 2008 - SOK
  • Interferenzen und Ranschburgsche Hemmung - VRS-Forum

Einzelnachweise und Anmerkungen

  1. Brief von Theodor Ickler an Dieter E. Zimmer zur neuen Hausorthographie der ZEIT. In: http://www.rechtschreibreform.com/Seiten2/Wissenschaft/951IcklerZEIT.html. Der Brief Theodor Ickler an Dieter E. Zimmer stand in www.rechtschreibreform.de im Strang: „Vier Viertel Rosso nach Mitternacht“ vom 03.03.2001. Er war nur noch auszugsweise als mein Zitat im Google-Cache verfügbar.
  2. Theodor Heinsius: Volksthümliches Wörterbuch der Deutschen Sprache. Hannover, 1822, vierter Band
  3. Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber des Oberdeutschen. Wien, 1808, vierter Band
  4. Günter Schmickler: Wie „kakophon“ ist der „Selbstständige“? 24. Februar 2006 - VRS-Forum
  5. Am weitesten war der Reformer Gerhard Augst 1985 gegangen, als er einen ganzen Katalog von Änderungen vorsah. Davon ist eine Zufallsauswahl von <ä>-Schreibungen durchgesetzt worden: aufwendig (Variante), behende, belemmert, Bendel, Gemse, Stengel, überschwenglich; bleuen, Greuel, greulich, schneuzen.
    Theodor Ickler kommentiert diese Änderungen in seinem Kritischen Kommentar (1997) und nennt eine kleine Auswahl von Wörtern, die man ebenfalls ändern könnte:
    heften (wegen haften), prellen (prallen), schellen (schallen), wecken (wachen) und andere Kausative, dazu fertig (Fahrt), Mensch (Mann), Geschlecht (Schlag), fest (fast), Krempe (Krampe), gerben (gar), Henne (Hahn), kentern (Kante), sperren (Sparren), Wels (Waller), Eltern (alt).